Der Innovations- und Digitalisierungsexperte Dr. Jens-Uwe Meyer empfiehlt, eine Roadmap zu entwickeln, bei der zunächst die möglichen Anwendungsfelder identifiziert und bewertet werden.
KI-Anwendungen werden die Unternehmen und deren Geschäftsmodelle sowie Prozesse und Strukturen in den nächsten Jahren radikal verändern. Jobs, die heute noch aufwändig manuell erledigt werden, werden künftig intelligente Maschinen übernehmen. Die Effizienz und Produktivität werden auf eine neue Stufe gehoben werden, so die Prognose von KI-Spezialisten.
In diesem Change- bzw. Transformationsprozess liegen dem Innovations- und Digitalisierungsexperten Dr. Jens-Uwe Meyer zufolge "die Chancen und Risiken für Unternehmen dichter beisammen als je zuvor". Entsprechend verunsichert und nicht selten zurecht zögerlich sind viele Führungskräfte, Manager und Unternehmer, wenn es um die Frage geht, wie man KI im eigenen Unternehmen nutzen kann.
Erachten einer Roadmap
Auch deshalb, weil die Künstliche Intelligenz fast alles kann: Fehler entdecken, Prognosen erstellen, Analysen durchführen, Bewerbungen screenen, Beschäftigte einarbeiten, Kunden automatisiert informieren, Qualitätsstandards überprüfen, Produktionsprozesse optimieren und vieles mehr.
Deshalb stellen sich laut Dr. Meyer auch die Verantwortlichen im Mittelstand drei zentrale Fragen:
- Wie können wir Anwendungsfälle für die künstliche Intelligenz in unserer Organisation identifizieren?
- Wie entscheiden wir, womit wir am besten anfangen?
- Wie erkennen wir, ob sich bestimmte Anwendungsfälle in unserem Unternehmen für den KI-Einsatz überhaupt eignen?
Um diese Fragen zielführend zu beantworten, bedarf es seines Erachtens einer Roadmap, also eines systematischen Vorgehens beim Identifizieren, Bewerten und Implementieren von KI-Anwendungen in der Organisation, denn: "Die größte Gefahr besteht in einem blinden Aktionismus – das zeigt die Praxis immer wieder." Es gelte, Schritt für Schritt und mit System mögliche Anwendungsfälle zu identifizieren, deren Wert für das eigene Business zu ermitteln und auf ihre Machbarkeit hin zu überprüfen.
Schritt 1: Mögliche Anwendungen ermitteln
Dass die KI einige Geschäftsprozesse automatisieren und in anderen erhebliche Effizienzsteigerungen bewirken kann, ist den meisten Verantwortlichen klar. Doch womit sollen sie starten? Jens-Uwe Meyer schlägt eine pragmatische Herangehensweise vor: "Stellen Sie sich vor, die künstliche Intelligenz sei eine Person, die sich bei Ihnen um eine Stelle bewirbt.
Dann lautet die erste Frage, die Sie sich in der Regel stellen: Was kann die Person und wofür könnten wir sie einsetzen?" Mit dieser Frage beginnt auch die Suche nach KI-Anwendungen. Bei ihrer Beantwortung können Musteranwendungsfälle und Leitfragen helfen, wie Jens-Uwe Meyer sie entwickelt hat und in seinem neuen Buch "Die
KI-Roadmap: Künstliche Intelligenz im Unternehmen erfolgreich einsetzen" beschreibt. Diese muss man sich wie Kreativitätstechniken vorstellen, die speziell dafür entwickelt wurden, Ideen und Vorschläge für Anwendungsfälle zu generieren. Ein Beispiel: KISysteme können Prognosen zum künftigen Kaufverhalten von Personen und Organisationen erstellen. Dazu nutzen sie Entscheidungsmuster, die in Kundendaten vorliegen.
Bezogen auf diesen Anwendungsfall lautet die zentrale Leitfrage: Welche betriebswirtschaftlichen und strategischen Vorteile würde es uns bringen, wenn wir das Kaufverhalten unserer Kunden prognostizieren könnten? Beim Arbeiten mit den Musteranwendungsfällen soll erkundet werden, welchen Benefit das Unternehmen aus dem potenziellen KI-Einsatz ziehen könnte. Die Vorlagen haben hierbei die Funktion von Blaupausen, um Ideen zu generieren, wo und wie man die KI messbar effektiv nutzen könnte.
Schritt 2: Wirtschaftlichkeit berechnen
Eine große Herausforderung beim Einsatz künstlicher Intelligenz ist es, die genauen Einspar- beziehungsweise Wachstumspotenziale zu berechnen, denn jeder Berechnung liegen zahlreiche Annahmen und Wenn-Dann-Beziehungen zugrunde:
- Wenn das Projekt teurer wird als geplant, rechnet es sich dann noch?
- Wenn die Verkäufe statt um 30 nur um 20 Prozent steigen, lohnt sich die Investition dann noch?
- Wie wirkt es sich auf den Business Case aus, wenn wir statt diesem KI-System das Tool eines anderen KI-Anbieters nutzen?
Beim Beantworten solcher Fragen kann ein Szenarienrechner helfen, den das Unternehmen von Meyer, die Innolytics AG, Leipzig, entwickelt hat. Damit können die unterschiedlichsten Szenarien (Worst Case, Best Case, Anbieter A, Anbieter B) verglichen werden. Das Tool berechnet auch den Projektaufwand.
Schritt 3: Machbarkeit analysieren
Damit eine künstliche Intelligenz sinnvolle Daten und Empfehlungen generieren kann, braucht es bestimmte Voraussetzungen. So müssen unter anderem genügend Daten vorliegen, die für die Aufgabenstellung relevant sind. Sonst kommt es Meyer zufolge zuweilen zu merkwürdigen Effekten: "Angenommen Sie geben einem KI-System den Auftrag, die Produktivität Ihrer Beschäftigten auf Basis aller zur Verfügung stehenden Daten zu erhöhen, dann können lustige Empfehlungen herauskommen."
So zum Beispiel, wenn das System feststellt, dass Beschäftigte produktiver sind, die drei Tassen Kaffee getrunken haben. "Dann könnte es die Empfehlung geben, den Kaffeekonsum zu erhöhen." Dahinter würde kein Fehlverhalten der KIAnwendung stecken, sondern genau das, wozu sie entwickelt wurde, nämlich: neue, bisher unbekannte Zusammenhänge aus Daten herauszulesen. Unternehmen müssen sich also genau überlegen, welche Daten sie zur Verfügung stellen und dürfen den gesunden Menschenverstand nicht außer Acht lassen.
Schritt 4: Pilotprojekte starten
Die aktuell rasanten Fortschritte beim Einsatz künstlicher Intelligenz bringen viele Mittelständler in Zugzwang. Unternehmen sie nichts und warten lieber, bis alle Mitbewerber Anwendungsfälle für KI gefunden haben, laufen sie Gefahr, abgehängt zu werden. Entscheiden sie sich hingegen zu früh für eine bestimmte Richtung, besteht die Gefahr, dass sie aufs falsche Pferd setzen.
Ein Vorteil der KI-Technologie ist: Man kann mit Prototypen arbeiten. "Im Gegensatz zur Entwicklung eines neuen Autos oder einer neuen Maschinengeneration muss man sich beim Einsatz von künstlicher Intelligenz meist nicht sofort festlegen", betont Meyer. "Man kann sich zunächst mit Prototypen an die Materie heranarbeiten. Also: Mit kleineren Anwendungsfällen sowie in Teilbereichen der Organisation starten und ausprobieren, welche Ergebnisse dies bringt."
Im Kern steckt dahinter die gleiche Entwicklungsphilosophie, mit der Thomas Edison einst das System der Glühbirne erfand. In den USA wird es "Serendipity" genannt. "Man kann dies als geplanten Zufall bezeichnen", erklärt Meyer. "Man tastet sich durch Experimente Schritt für Schritt vorwärts." Die Erkenntnisse aus jedem Experiment fließen dabei in den nächsten Entwicklungsschritt ein und der erfolgreiche Prototyp wird schließlich implementiert.
Schritt 5: Die KI trainieren und optimieren
Dieser Punkt wird häufig unterschätzt. KIModelle werden schlauer und treffsicherer, je länger sie im Einsatz sind. Das heißt auch: Die Ergebnisse aus den prototypischen Tests sind noch nicht perfekt. Das macht aber nichts, weil die künstliche Intelligenz selbstständig lernt, sofern sie das nötige Daten-Futter erhält. "Seien Sie also nicht frustriert, wenn die Ergebnisse anfangs hinter Ihren Erwartungen zurückbleiben", betont Dr. Meyer.
"Ähnlich wie bei der Entwicklung eines autonom fahrenden Autos braucht es bei jeder KI-Anwendung zu Beginn Menschen, die die Ergebnisse korrigieren und dem System mitteilen, wo es richtig oder falsch liegt."
Bereits in dieser Phase produziert die KI aber messbare Ergebnisse, die zu einer Effizienzsteigerung führen. Selbst wenn die KI-Anwendung beispielsweise Dinge im Lager noch nicht hundertprozentig perfekt findet, ist sie immer noch schneller als ein Mensch. Selbst wenn die Mustererkennung zu Beginn noch teilweise fehlerhaft ist, sind doch schon viele Daten dabei, die bereits eine bessere Prognose als bisher erlauben."
Fazit
Der Vorteil eines systematischen und geplanten Vorgehens liegt nach Einschätzung des Digitalisierungsexperten Meyer auf der Hand: Die Unternehmen sammeln umfangreiche Erfahrungen und bauen Expertise im Anwenden der KI auf. Sie identifizieren die Anwendungsfälle, die für sie am lohnendsten sind, und schaffen so die Grundlage für ihre künftige Wettbewerbsfähigkeit.
Ein strukturiertes, systematisches Vorgehen ermöglicht es zudem, alle Betroffenen bzw. Stakeholder "top-down" ins Boot zu holen, denn es schafft Transparenz. Dadurch sinken die Vorbehalte gegen den mit dem verstärkten KI-Einsatz verbundenen Change- und Transformationsprozess. Und das verkürzt wiederum die Projektdauer und erhöht die Effizienz.
Von Bernhard Kuntz
Weitere Informationen: Den bebilderten Fachartikel als PDF-Datei herunterladen: Künstliche Intelligenz nutzen - aber wie?
Kommentar schreiben